Bekenntnis zur politically incorrectness

Gestern Abend, nach unserer allerletzten Show dieser Tour, sprach mich vor der Backstagetür in St. Petersburg eine Frau an und bedankte sich für mein Blog und meine Sicht auf Rußland. Das Ganze in fließendem und akzentfreiem Deutsch. Ich war überrascht, daß sogar Menschen in Rußland hier lesen (aber mich überrascht sowieso immer wieder, wieso doch recht viele Menschen mein Blog lesen) und im Nachhinein dachte ich darüber nach, ob ich in der Vergangenheit nicht vielleicht sehr einseitig und vielleicht zu negativ über dieses Land geschrieben habe. Ich bekam fast sowas wie ein schlechtes Gewissen. Dann dachte ich an die vergangenen Tage und ich war mir sicher: nein. Ich war eigentlich immer eher beschönigend.

Rußland heißt bei uns in der Produktion „The country of NJET“.

Ja, es gibt natürlich immer wieder Ausnahmen, gerade gestern in St. Petersburg gab es so eine Ausnahme, wo sich die örtliche Produktionsleiterin echt Mühe gegeben hat und ehrliche Antworten gab; aber diese Ausnahmen sind kleine Kerzen inmitten von tiefer Dunkelheit. Rußland ist für mich geprägt von Unfreundlichkeit, Ruppigkeit und ganz offensichtlicher und plumper Lüge. Natürlich ist dieser Eindruck geprägt von den Menschen, die uns tourbedingt umgeben. Aber eben auch von den Menschen, denen man zufällig begegnet: im Bahnhof, im Zug, am Flughafen, beim Spaziergang. Und da war der Übergang von Estland nach Rußland ein Kontrast, der härter nicht ausfallen konnte.

Rußland ist ein Land, in dem ich nicht leben wollte. Die gesellschaftliche Struktur ist mir nicht nur fremd, sie erscheint mir … abstoßend. Und wenn ich mit dieser Einschätzung den wenigen Kerzen in der Dunkelheit vors Schienenbein trete, dann tut mir das tatsächlich leid, denn diese Ausnahmen die ich kennenlernte, schätze ich wirklich sehr. Aber sie sind eben Ausnahmen.

6 Gedanken zu „Bekenntnis zur politically incorrectness“

  1. Hallo Markus,

    ich denke aus unserer westeuropäischen Sicht bekommen wir alle so etwas wie einen Kulturschock wenn wir in das tiefste Russland eintauchen. Vom Prinzip sind die Menschen aber dort wie du und ich. Das Leben in diesem Land macht sie erst zu dem, was sie sind. So wie wir von unserer Kultur, politischem System und Lebensstandard geprägt sind, sind es diese Leute auch.
    Mein erster Eindruck von Russland 2009 war schockierend. Trotz bestellter Hilfe beim Boarden war keine Hilfe da und erst recht mein Rollstuhl nicht. Ich bekam lediglich die Auskunft, ich würde ihn bei der Gepäckausgabe bekommen. Eher ginge nicht weil ein anderer Passagier Übergepäck gehabt hätte und er darum jetzt nicht ausgeladen werden könne weil dieses Gepäck noch im Weg sei. Wie ich bis zu der Gepäckausgabe, die nach der ganzen Zollabfertigung usw. ist, gekommen bin? – Man konnte auf dem glatten Boden super rutschen und sauberen Fussboden hatten sie dort, muss man ihnen lassen.

    Kurz darauf bekam ich aber ein ganz anderes Russland zu sehen. Beim Bus ist der Einstieg normal vorne, mit dem Rollstuhl aber hinten. Da eine große Stufe war packten mich 2 junge Russen einfach links und recht am Rollstuhl und hoben mich hoch. Da machte der Busfahrer aber plötzlich die Türe zu. Erst nach längerer Diskussion eines anderen jungen Russen und meiner Begleitung, die wegen dem Ticket lösen vorne am Einstieg war, öffnete der Busfahrer wieder die Türe. Während dieser Zeit hielten mich die 2 Russen die ganze Zeit in der Luft vor der Türe. Rollstuhl, ich und das schwere Gepäck auf dem Schoß – geschätzte 100 Kilo. Die Arme wurden länger und länger aber obwohl ich ihnen bedeutete mich abzusetzen hielten sie mich tapfer.

    So eine Hilfsbereitschaft erlebt man in Deutschland selten.

    Auch später erlebte ich mehrere sehr nette und hilfsbereite Menschen. Wenn wirklich Not am Mann war, war immer jemand da. Ganz normale junge russische Leute. Von jedem, der irgendwie einen offiziellen Posten hatte, war allerdings keinerlei Hilfe zu erwarten. Ich denke eure Kontakte zur normale Bevölkerung im Vergleich zu Angestellten usw. ist genau anders herum als wie es bei mir war.

    Für mich gab es in Russland so viele Kerzen in der Dunkelheit, um es mit deinen Worten auszudrücken, dass ich mit sehr viel Licht in meinem Herzen von meiner Reise zurückgekommen bin.

    Liebe Grüße und danke für deinen Blog. Chris

  2. Hej Chris,

    wenn Du Rußland so hilfsbereit erlebt hast, dann ist das klasse. Ich selbst habe vor einigen Jahren mal (zum Glück nur wenige Wochen) nach einem Unfall im Rollstuhl gelebt und war auch erstaunt, wie unkompliziert man in Berlin damit klarkam, weil einem überall sofort geholfen wurde. Auch und gerade in Gebäuden, die eigentlich gar nicht für Rollstuhlfahrer eingerichtet waren.

    Neben den wenigen wirklich sehr freundlichen und hilfsbereiten Personen, die dadurch für mich herausragende Menschen sind, erlebe ich im russischen Alltag aber eber Rücksichtslosigkeit. Anstehen in einer Schlange endet oft in Rempeleien (im Herbst sogar an einem Flughafen fast in einer Schlägerei), es wird vorgedrängelt. Ein guter Blick in die russische Seele ist die RushHour, in der sich regelmäßig die Autos so ineinander verkeilen, daß dann niemand mehr vorankommt. Frei nach dem Motto: lieber noch fünf Sekunden nach Rot in eine Kreuzung gefahren und damit den Verkehr komplett blockiert, als mal zusehen, daß alle weiterkommen. Jedem der über rücksichtsloses Fahren in Deutschland schimpft, würden in Rußland die Augen aus dem Kopf fallen. Bei unserer Ankunft in St. Petersburg waren die Autos im Kreisverkehr vor dem Bahnhof so ineinander verkeilt, daß 20 Minuten lang gar nichts mehr ging und erst die Polizei kommen mußte, um den Knoten aufzulösen, weil ja auch niemand mal auch nur 5mm nachgeben konnte.

    Noch viel nervender ist für mich aber die Omnipräsenz der ganz klaren Lüge. Mit der Begründung „This is Russia“ (gesteigert nur noch durch den Satz „This is Kremlin“) wird die eigene Unmotiviertheit Dinge anzugehen, als Staatsform festgeklopft. Wenn man diesen Satz nicht akzeptiert, werden einem die haarsträubensten Geschichten erzählt, die einfach ganz offensichtlich nicht stimmen können. Das nimmt mir jeden Respekt vor meinem Gegenüber.

  3. Hallo Markus)

    Darf ich mich auch zum Thema aeussern?

    Erstens, vielen Dank an Chris – fuer dein Verstaendnis der ganzen Situation. Du hast was zu „unserer“ Verteidigung gesagt und zwar gute warmherzige Worte gefunden. Dabei gelang es dir, das anschaulich zu machen und dich kurz und knapp zu fassen. Mit dem Thema, dem wohl ganze Buecher und Studien gewidmet sind, faellt das nicht leicht…Hab mir grade ein Buch ueber Russland fuer Auslaender ducrhgeblaettert und was mir aufgefallen ist, war der Satz: „Auch Russen sind Menschen“. Naja, was soll ich als einer von diesen Menschen sagen)?

    Natuerlich werde ich nicht sagen: „Nee, Sie haben einen voellig falschen Eindruck bekommen, und das Ganze stimmt nicht!“. Und etwas von der Unbegreiflichkeit Russlands und der russischen Seele nicht hinzufuegen) Wozu denn? Das waeren wohl pathetische Worte, die der Wahrheit nicht entsprechen. Im Laufe der letzten grossen Russland-Tourne gab’s viele Probleme. Ihren Berichten und meiner eigenen Erfahrung nach kann ich mir Einiges (ich glaub nur einen kleinen Teil davon) vorstellen, was die Saenger und die Crew alles ertragen mussten. Das war echt anstrengend( Da haben Sie deutlich Kritik geuebt und negative Momente und Seiten ans Licht gebracht, die ausser Acht gelassen werden oder die man oft einfach verschweigt. Wer weiss, woran das liegt, dass es so ist, aber in dieser Hinsicht sind Mentalitaet und Nationalcharakter zu erwaehnen. In diesem weiten Feld, wo man Gruende fuer scheinbar unmotiviertes Verhalten entdeckt, verbergen sich auch positive Eigenschaften, so wie Offenheit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Schade, dass es wenige Faelle gab, die als Beweiss dafuer gelten konnten. Manchmal sind Sie in Ihrem Blog auch auf einige positive Seiten eingegangen. Dafuer danke ich Ihnen.

    Den Satz „This is Russia“ als eine ausreichende Erklaerung fuer alles Moegliche finde ich, ehrlich gesagt, auch bloed. Falls etwas nicht funktioniert, soll man das auch gestehen koennen und versuchen, Loesungen zu finden. Ob die „haarsträubensten Geschichten“ nicht stimmen und nur als Luege zu betrachten sind, bin ich nicht sicher.

    Ihr Russlandbild ist im Grossen und Ganzen abschreckend und abstossend. Einerseits, klingt das manchmal grob und beleidigend, denn ich lebe hier und das ist meine Heimat. Ich haette gerne einige negative Eindruecke neutralisieren koennen. Anderseits, ist es immer nuetzlich so eine Einschaetzung – oder sagen wir – einen Blick von der anderen Seite zu bekommen, um selbst auf gewisse Dinge aufmerksam zu werden.

    Ich hoffe wirklich, dass Sie naechstes Mal viele ganz nette Leute kennen lernen, die Ihnen gerne Hilfe leisten und alles Moegliche machen, damit Sie sich hier, im Ausland, wohl fuehlen.

    Nochmals vielen Dank fuer den Blog und die Infos rund um Gregorian, Markus))

    Viel Spass auf Reisen!

    LG aus St.Petersburg =)
    Svetlana

  4. Hallo Svetlana,

    natürlich dürfen Sie sich zum Thema äußern — schließlich waren Sie letztlich Auslöser für meine Gedanken, die ich mir nach unserem kurzen Gespräch machte.

    Natürlich kann ich verstehen, daß es Sie trifft, wenn ich negativ über Ihre Heimat berichte; mir würde es andersherum genauso gehen. Und nicht alles, was ich in Rußland erlebte war schlecht. Ich erinnere mich, daß im Herbst beispielsweise eine der technisch katastrophalsten Shows von der Stimmung her letztlich mit eine der besten war, weil das Publikum so euphorisch mitging und die doch recht fragwürdige Dekoration einfach hinwegjubelte. Auf der anderen Seite ist es einfach unglaublich frustrierend, wenn man weiß, wie die Inszenierung mit ein wenig örtlichem Engagement aussehen könnte und sie dann mit der Realität in der jeweiligen Stadt vergleicht.

    Ich möchte mit meinen Schilderungen niemanden beleidigen und ganz sicher nicht die Menschen, die ich in Rußland zu schätzen lernte. Auf der anderen Seite möchte ich auch nichts beschönigen.

    Hier bin ich wieder an einer Stelle, an der ich fast bedauere, daß mein Blog so viele Leser hat. Ursprünglich fing ich an zu bloggen, damit meine Tochter, meine Eltern und meine Freunde besser wissen, was bei mir auf Tour passiert und damit ich sowas wie ein Tagebuch habe, in das ich meine persönlichen Eindrücke schreiben kann. Heute ist es so, daß es sowieso schon zwei Teile des Blogs gibt: einen öffentlichen Teil und ein Teil, der nur für mich selbst als Tagebuch zugänglich ist. Trotzdem bin ich mit dem was ich schreibe heute viel vorsichtiger als früher, beschneide mich selbst oft, eben weil so viele Menschen mitlesen. Letztlich sind aber natürlich meine Eindrücke eben meine Eindrücke und die möchte ich auch aufschreiben dürfen. Immerhin ist das hier immer noch mein ganz privates Blog und keine offizielle Publikation einer Band oder meines Arbeitgebers.

    Zu den beiden Terminen in dieser Woche kann ich sagen, daß die Show in St. Petersburg sicher die deutlich angenehmere von den beiden war. Nicht nur wegen des herzlichen Empfangs nach der Show am Bühneneingang, sondern auch während des Tages. Die örtliche Produktionsleiterin gab sich wirklich Mühe und ist uns allen sehr positiv aufgefallen. Vielleicht versöhnt Sie das ja ein wenig.

    Herzlichen Gruß nach St. Petersburg

    Markus

  5. Hallo Markus,

    ich wollte Sie auf keinen Fall beleidigen. Das ist Ihr Blog und Sie koennen hier alles schreiben, was Sie wollen. Das wird natuerlich nicht in Frage gestellt. Sie aeussern Ihre persoenliche Meinung und versuchen ja nicht, jemanden auf Ihre Seite zu ziehen. Wenn es darauf kommt, ich glaub, Ihre Leser verstehen, dass der Blog Ihre ganz private Sache ist, und sollen eigentlich dankbar sein, dass er fuer sie offen bleibt.

    Wir achten darauf, dass wir hier als unsichtbare (aber freundlich gestimmte!) Gaeste erscheinen, und schaetzen die Moeglichkeit, virtuell auf Tour dabei zu sein und Einiges mitlesen zu duerfen. Als Fan von Gregorian bin ich natuerlich neugierig, ob es was Neues gibt, welche Eindruecke Sie als Mitglied des grossen Teams haben, ob die oertlichen Veranstalter dafuer sorgen, dass es der Band und der Crew gut geht, die Technik funktioniert und so weiter. So kann man versuchen, sich als Leser in Ihre Lage zu versetzen. Die Fans wuenschen der Band immer das Beste. Deswegen ist es manchmal sooo frustrierend zu erfahren, dass (ja, eben bei uns) nicht Alles, was man fuer die Show braucht, bereitgestellt wurde. Auch wenn was Schlechtes gibt und gesagt wird, sind wir auf der Seite der Band.

    Was meinen Kommentar betrifft – da hab ich meine Eindruecke von Ihren vorherigen Berichten, also einige Kernpunkte zusammengefasst, um meine Position zu eroertern. Frueher hat es mich ja gekraenkt, jetzt hab ich mehr Verstaendnis dafuer. Ich wollte hier nichts schoenreden, sondern nur andeuten, dass es auch positive Seiten gibt. Ihr letzter Bericht war im Vergleich zu den anderen in Ordnung. Sie haben mich nicht verletzt. Hoffentlich klingt mein Kommentar nicht formell und wirkt freundlich) Ich schaetze wirklich, dass Sie an Ihre Leser denken und auch positive Beispiele angefuehrt haben) Nochmals Danke))

    Was an Ihrem Blog interessant und nuetzlich ist, ist grade, dass sie ehrlich schreiben und die Situation und Probleme, die es wirklich gibt, mit anderen Augen sehen. Ich bin sehr froh, dass ich Sie nach der Show ansprechen konnte)

    Beste Gruesse

    Svetlana

  6. Hallo noch mal,

    aaaaalso, Sie können hier gern so viel kommentieren wie Sie das möchten und unsichtbar brauchen Sie auch nicht zu sein. Das einzige, das mich irritiert ist die Siezerei. Darum, weil das ja hier mein Zuhause ist, mache ich jetzt mal mit „Du“ weiter :-))

    Ich bin nicht beleidigt und ich schreibe (fast immer) was ich denke. Und natürlich kann ich verstehen, daß Du als Gregorian – Fan gern auch mal hinter die Kulissen schaust. Wie schon geschrieben kann ich nachvollziehen, daß es unschön ist, sein eigenes Land nicht im positiven Licht zu sehen. Mir ginge es da nicht anders und ich kann mich daran erinnern, daß es mir bei den Annett Louisan – Touren immer sehr unangenehm war, wenn ausgerechnet in Hamburg die schlechtesten Stagehands am Start waren (obwohl ich da keinen Einfluß drauf hatte).

    Herzlichen Gruß

    Markus

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